Klassizismus: Die Architektur - Musentempel und Revolutionsaltäre

Klassizismus: Die Architektur - Musentempel und Revolutionsaltäre
Klassizismus: Die Architektur - Musentempel und Revolutionsaltäre
 
Klassizismus ist kritische Aneignung des antiken und neuzeitlichen Kunsterbes aus der Distanz eines historischen Bewusstseins. Der Klassizismus um 1800 war ein internationaler Stil, entstanden im Austausch zwischen Künstlern, Theoretikern, Sammlern, Funktionären und Auftraggebern. Die wichtigsten Zentren dieser Kunstszene waren Paris, die Hauptstadt der zeitgenössischen Kultur und der Sitz der bedeutendsten Architekturschulen, und Rom, wo sich Künstler und Kunstliebhaber aller Länder beim Studium der Antike begegneten.
 
Der französische Klassizismus fand wesentliche Leitbilder in der nationalen Kunsttradition des 17. Jahrhunderts. Um 1750 bekämpften die Kritiker das Rokoko als natur- und vernunftwidrige Verirrung und verwiesen zugleich auf die Klarheit der Bauten aus der Zeit Ludwigs XIV.: Die Teile eines Bauwerks sollten präzise definiert werden, Bauglieder in möglichst reiner Form innerhalb eines strukturell sinnfälligen Zusammenhangs auftreten. Bereits die späten Werke Ange-Jacques Gabriels - etwa die Fassaden der Place de la Concorde, die Oper in Versailles oder das Petit Trianon - entsprechen weitgehend diesen Reformvorstellungen. Im Kirchenbau verbanden Jacques-Germain Soufflot, Pierre Contant d'Ivry, Nicolas Potain und Jean-François-Therèse Chalgrin antikische Kolonnaden mit der gewagten Konstruktion und schwerelosen Raumwirkung gotischer Wölbebauten. Hinzu trat eine neue, über Giovanni Battista Piranesi und die Stipendiaten der französischen Akademie in Rom vermittelte Sicht antik-römischer Größe. Stichwerke verbreiterten die Kenntnis der römischen Architektur und machten in der Neuzeit erstmals mit der stilistischen Eigenständigkeit altgriechischer Bauten bekannt. In der Praxis jedoch deutet das theoretische Schlagwort »à la grecque« (= nach Art der Griechen) meist nur auf eine allgemeine modische Antikenrezeption hin. Die Kunstgeschichte hingegen bezeichnet den Frühklassizismus als »Louis-seize«, wenngleich dieser angebliche Stil Ludwigs XVI. schon unter dessen Vorgänger um 1755 einsetzte.
 
Zu keiner Zeit und an keinem Ort dürfte es in der Architektur einen so hohen Ausbildungsstand gegeben haben wie im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Künstler wie Jacques-Denis Antoine, Charles de Wailly, Marie Joseph Peyre der Ältere, Jacques Gondoin oder Victor Louis errichteten zahlreiche öffentliche Gebäude im antikisierenden Geschmack mit Säulenportiken oder pantheonartigen Kuppeln. Ästhetische Vorlieben dominierten. Die überkommene Lehre, nach der ein Gebäude seinem Rang gemäß zu gestalten sei, trat zurück. Sogar Nutzbauten beanspruchten jetzt Würdeformeln der »Hochkunst«, und selbst private Wohnbauten wurden außen und innen zu Tempeln stilisiert.
 
Der französischen Kultur verpflichtet war Schweden, wo besonders unter König Gustav III. höchst qualitätvolle Interieurs geschaffen wurden. In Russland löste unter Katharina II., der Großen, der französische Klassizismus den italienischen Barock ab; er blieb bis nach 1800 für Monumentalbauten bestimmend. In den Vereinigten Staaten von Amerika war die Wohnkultur seit der Kolonialzeit englisch geprägt. Öffentliche Bauten aber orientierten sich zunächst am Frankreich der Aufklärungszeit, später am »Greek revival«, der klassizistischen Richtung der englischen Architektur, die durch die Erforschung des antiken Griechenlands angeregt worden war. Historisch eng mit der Geburt der Nation verbunden, wurde der Klassizismus in den USA zum offiziellen Stil des Landes.
 
Im Georgianischen England bildeten Villen und Landsitze die führende Bauaufgabe. Schon in der ersten Jahrhunderthälfte grenzte sich hier die von den Bauwerken des Renaissancearchitekten Andrea Palladio beeinflusste Architektur vom höfischen Barock ab. Um die Jahrhundertmitte setzte dann die systematische Erschließung der römischen und wenig später auch der griechischen Monumente durch Architekten und dilettierende Kunstkenner ein: Ab 1762 publizierten James Stuart und Nicholas Revett die »Antiquities of Athens«, die erste Dokumentation der antiken Architektur Griechenlands. Erfolgreichster Architekt für Privataufträge war Robert Adam. Mit Piranesi befreundet, propagierte er einen radikalen Eklektizismus. Geschmackssicher verfügte er über das gesamte klassische Motivrepertoire als Vorlage für alle Gestaltungsaufgaben. Sein Konkurrent William Chambers orientierte sich stärker an Frankreich und entwarf 1775 mit Somerset House das wichtigste öffentliche Gebäude im London dieser Zeit.
 
Im deutschen Südwesten führten französische oder in Frankreich geschulte Künstler das »Louis-seize« ein. Der kurpfälzische Hofarchitekt Nicolas de Pigage gestaltete 1768 mit dem Badhaus im Schlosspark in Schwetzingen einen Gründungsbau des Klassizismus. Die ab 1768 von Pierre Michel d'Ixnard entworfene Abteikirche von Sankt Blasien greift Tempelfront und Kuppel des römischen Pantheons auf und steht zugleich mit dem inneren Säulenrund und den Kolonnaden des Chors auf der Höhe der damals neuesten Pariser Architektur. Das ganze Spektrum musterhafter Baukunst von der Antike bis in die jüngste Zeit zeigen die Werke, die Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff im aufgeklärten Fürstentum Anhalt-Dessau schuf: In Wörlitz entstand ab 1764 der erste englische Landschaftspark auf dem Kontinent, das dortige Schloss ist ein Zeugnis sowohl der Anglophilie als auch der Italiensehnsucht des Fürsten und seines Architekten.
 
In Preußen hielt Friedrich II., der Große, für Innendekorationen am Rokoko-Geschmack seiner Jugendzeit fest. Das Äußere mancher Bauten zeigt Einflüsse des englischen Palladianismus - sichtbar etwa am königlichen Opernhaus in Berlin von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Jean-Laurent Legeay führte in Potsdam Baugedanken des französischen Piranesi-Kreises ein. Von der Pariser Kirche Sainte-Geneviève inspiriert sind Karl von Gontards überkuppelte Türme des Deutschen wie des Französischen Doms am Berliner Gendarmenmarkt, wohingegen Langhans' 1791 vollendetes Brandenburger Tor die Athener Propyläen und Ledoux' Pariser Zollhäuser nachahmt. In ihrer radikalen Ästhetik nur mit der französischen Revolutionsarchitektur vergleichbar waren am Ende des Jahrhunderts die Entwürfe von Friedrich Gilly, dessen Schüler Karl Friedrich Schinkel den Klassizismus in Preußen auf den Höhepunkt führte.
 
Prof. Dr. Michael Hesse
 
 
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert, Band 1: Vaughan, William: 1780—1850. Vom Klassizismus zum Biedermeier. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Lankheit, KlausRevolution und Restauration. 1785—1855. Neuausgabe Köln 1988.
 Middleton, Robin und Watkin, David: Klassizismus und Historismus. 2 Bände. Stuttgart 1987.
 Mignot, Claude: Architektur des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen. Neuausgabe Köln 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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